Vorurteile abbauen | Fallbeispiele aus der Praxis

Angesprochen auf das Thema Homosexualität meinen soziale Fachkräfte des öfteren, das sei "eigentlich kein Problem" in der Sozialen Arbeit. Bei näherer Betrachtung ergibt sich allerdings ein anderes Bild. Dazu einige Fallbeispiele, berichtetet von Fachkräften und Berufspraktikant*innen in Fortbildungsseminaren:

Kindergarten:
Ein Junge spielt am liebsten mit Mädchen, trägt oft Kleider und übernimmt in Rollenspielen gern weibliche Rollen. Die Erzieher*innen wirken eindringlich auf ihn ein: "Du bist doch ein Junge! Du willst doch später ein richtiger Mann sein. Und nicht etwa am Ende schwul werden."

Kindertagesstätte:
Die Leitung trennt sich von einem Erzieher, gegen den Eltern mit einer Unterschriftenliste vorgegangen waren. Ihre Kritik an ihm: "zu weiblicher Touch".

Pflege- und Adoptionsvermittlungsstelle eines Jugendamts:
In der Teamsitzung sagt ein Kollege, dass es seiner Meinung nach dem Kindeswohl schaden könnte, wenn ein Kind gleichgeschlechtliche Pflegeeltern habe. Im Team gibt es dazu sehr unterschiedliche Meinungen, und es entsteht eine Kontroverse.

Schulsozialarbeit:
Die Sozialarbeiterin berichtet, wie oft die Schüler den Ausdruck "schwule Sau" verwenden und dass sie eigentlich einschreiten möchte, aber nicht weiß, wie: "Ich nehme die Hürde nicht, ich kriege es nicht auf die Reihe, weil mir die sprachlichen Mittel fehlen".

Jugendzentrum:
Naima sagt zur Betreuerin: "Ich habe mich in ein Mädchen verliebt. Jetzt bin ich ganz durcheinander. Was heißt das denn jetzt? Das darf doch nicht wahr sein, dass ich lesbisch bin!"

Jugendwohngruppe:
Die Betreuerin geht in den Raum eines Bewohners, überrascht dabei ihn und einen anderen Jugendlichen beim Austausch sexueller Zärtlichkeiten und läuft zurück in das Team-Büro. Sie berichtet: "Wir waren erst mal nur perplex und wussten nicht, was wir tun sollten."

Behindertenhilfe:
Ein Betreuer beschreibt, wie er das erste Mal einem jungen, schwer behinderten Mann beim Toilettengang helfen und dessen Penis halten musste. "Das hatte ich noch nie getan. Es hat mich ziemlich aufgewühlt".

Beratung:
Ein türkischstämmiger Mann erzählt, dass er nicht mehr weiß, was er machen soll. Seine Eltern drängten ihn schon seit Jahren, endlich zu heiraten. Nun hätten sie die Geduld verloren und eine Ehe arrangiert, die in Kürze geschlossen werden soll. Er sei verzweifelt, denn er liebe schon immer Männer, und die Lage sei nun für ihn ausweglos.

Wohnheim für ehemals drogenabhängige Frauen:
Im Gemeinschaftsraum sitzt die Sozialarbeiterin mit zwei Bewohnerinnen, Frau A. und Frau B., und sieht mit ihnen zusammen einen Film mit Marlene Dietrich an. Sie weiß, dass Frau A. Beziehungen zu Männern, Frau B. dagegen Beziehungen zu Frauen hat. Als im Film Marlene Dietrich eine Frau küsst, sagt Frau A.: "Iiii, wie eklig…!" Daraufhin steht Frau B. auf und verlässt den Raum.

Wohnheim für wohnsitzlose Männer:
Ein Mann wird aufgrund seiner Homosexualität in ein Hotel ausquartiert. Beratung in der Altenarbeit: Frau A., als Mann geboren, hat sich "schon immer" weiblich gefühlt und lebt schon seit langer Zeit als Frau. Nun, mit zunehmendem Alter und der Verschlechterung ihres Gesundheitszustands, hat sie große Ängste davor, als die, die sie ist, in ein "normales Altersheim mit der Pflege und allem" zu kommen.

Die Praxisbeispiele machen deutlich: Fragen der sexuellen Orientierung können in jeder Lebensphase auftauchen, vom Kindes- bis zum Rentenalter, und in jeder Einrichtung, vom Wohnheim bis zum Jugendzentrum. Dann sind die Fachkräfte mit Konflikten konfrontiert, in denen individuelle gleichgeschlechtliche Liebeswünsche und die gesellschaftliche Norm der Heterosexualität aufeinander prallen.

Auf Seiten der Fachkräfte löst dieser Konflikt Verunsicherung oder Ratlosigkeit aus, auch (hetereo-)normative Reaktionen gegenüber Klient*innen oder Auseinandersetzungen im Team. Hinter solchen Reaktionen stecken Normalitätsvorstellungen und Einstellungen zu Geschlechterrollen und Homosexualität, die nur zum Teil bewusst sind. Dies gilt nicht nur für Klientinnen und Klienten, sondern auch für Kolleginnen und Kollegen.

Mehr zum Thema:
"Auf dem Weg zur Regenbogen-Kompetenz" von Ulrike Schmauch
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